Werteorientierte Außenpolitik - Weg in den Abgrund?

POLITIK: In der Weltordnung zeichnen sich gravierende Veränderungen ab. Hintergrund ist einerseits der völkerrechtswidrige Ukraine-Krieg. Bundeskanzler Olaf Scholz sprach in seiner Regierungserklärung (27.2.2022) von einer „Zeitenwende“ und hat damit jahrzehntelange Grundsätze der deutschen Politik geschreddert. Angekündigt haben sich die Kräfteverschiebungen aber schon viel früher und nun geht es um die Frage wie kann Politik darauf reagieren.

Die Situation – Nichts ist mehr so, wie es war!

Die lange bestehende Multipolarität wurde 1945 durch die Bipolarität des Ost-West-Konfliktes abgelöst. Sie war geprägt von atomarer Abschreckung und den Militärbündnissen NATO und Warschauer Pakt. Nach dem Zerfall der Sowjetunion und des Warschauer Pakts entstand eine Phase der Unipolarität mit den Vereinigten Staaten als einziger Supermacht. [1]
Noch ist nicht klar wohin es läuft. Ist das amerikanische Jahrhundert vorbei, der „unipolare Moment“ verflogen und mit ihm das „Ende der Geschichte“ (Francis Fukuyama). Oder kommt nun ein „pazifisches Jahrhundert“, in dem China die dominierende Weltmacht ist und die aufstrebenden Länder des Südens und Ostens in den Bann seines autoritären Kapitalismusmodells zieht?
Oder gibt es eine neue Phase der Multipolarität mit wenigen, etwa gleich starken, globalen Akteuren, wie dies Vertreter der Neorealistischen Schule, u.a. auch John J. Mearsheimer erwarten? Für Mearsheimer würde China in einer solchen Welt der bedeutendste Herausforderer der USA. Die Rückkehr zur Multipolarität würde die Kriegsgefahr erhöhen. [2]

Festzustehen scheint: Die Machtstrukturen und Inhalte der internationalen Weltordnung haben sich verschoben. Strategische Konkurrenz löst die Leitidee der internationalen Kooperation immer mehr ab, Systemkonkurrenz zwischen liberalen und illiberalen Staatsmodellen wird dominierend.
Da sich das liberale Ordnungsmodell nicht universell durchsetzen konnte, kam es in Europa und Deutschland zu einem Wandel. Im China-Strategiepapier des Europäischen Auswärtigen Dienstes (2019), wird die Volksrepublik zwar noch immer als ein (strategischer) Partner bezeichnet, zugleich aber auch als Konkurrenten und systemischen Rivalen. [3]

Werteorientierte Außenpolitik

China-Bashing

In den letzten Jahren wird in der Politik zunehmend „moralisch“ argumentiert und bestimmt verstärkt das außenpolitische Denken und Handeln. So gab es schon bei den Olympischen Spiele 2008 in Peking ein China-Bashing, das der Politikwissenschaftler Thomas Meyer 2008 so verurteilte: „Das sich allmählich als einheitlicher Grundton unserer Massenmedien einspielende China-Bashing verbaut die Chancen zum Kennenlernen des widerspruchsvollen Landes und seiner wirklichen Aufbruchprozesse.“ [4]
Und 2013 forderte der Politikwissenschaftler Eberhard Sandschneider von Deutscher Außenpolitik „Raus aus der Moralecke! Die deutsche Außenpolitik sollte der Welt nicht ihre Werte diktieren.“ (DIE ZEIT Nr. 10/2013, 28.2.2013) Stefan Kornelius schrieb: „Schimpfen, empören, kritisieren: Im Aufregen über andere Nationen ist Deutschland momentan wieder sehr fleißig. Doch zu viel "moralische Keule" ist nicht besonders klug - zumal in der Außenpolitik.“ (Süddeutsche Zeitung, 23.1.2015)

 

Wertegeleitete Außenpolitik ist dialogunfähig

So gesehen bietet Außenministerin Annalena Baerbock mit ihrer »wertegeleitete Außenpolitik« nichts Neues. Programmatisch konzipiert war die neue Sicherheitspolitik bereits im Koalitionsvertrag der neuen Ampelregierung, der am 24.11.2021 vorgestellt worden war.
Dort findet sich der programmatische Satz, dass die Bundesregierung sich für die „Bewahrung unserer freiheitlichen Lebensweise in Europa und den Schutz von Frieden und Menschenrechten weltweit einsetzen“ wird. Als Fundament wird formuliert: „Dabei leiten uns unsere Werte und Interessen.” [5] Das heißt eine regelgebundene internationale Ordnung ist aufrecht zu erhalten und zu bewahren sind Freiheit, Demokratie, Gewaltenteilung, Rechtsstaat, Meinungsfreiheit, Menschenwürde und fairer Wettbewerb – die Gegenpole von Diktatur und Autokratie.

Was sich erst mal gut anhört erweist sich in der Umsetzung als problematisch und als kontraproduktiv für das eigentliche Ziel der Außenpolitik – den Frieden. Denn in der Außenpolitik geht es um Krieg und Frieden bzw. um Sicherheits- und die Wirtschaftsinteressen verschiedener Staaten. Aufgabe der Diplomatie ist es gegensätzliche Interessen auszugleichen, Konflikte friedlich zu lösen und so Krieg zu vermeiden.
Dabei zeigt sich, dass „werteorientierte Politik“ im „Endeffekt dialogunfähig ist, weil sie politische Interessengegensätze in die Sphäre der Moral verschiebt. Interessengegensätze sind prinzipiell lösbar. Moralische Gegensätze zwischen Gut und Böse sind es nicht.“ [6]

Dilemmata der „Werteorientierung“

Werte zu predigen mag leicht sein – sie umzusetzen schwer - und vielleicht auch nicht gut. Man fühlt sich erinnert an das Schlagwort von Emanuel Geibels (1861) „Am deutschen Wesen mag die Welt genesen.“ Wir kennen die Folgen.
„Werteorientierte Außenpolitik“ muss ein Grundproblem lösen und das heißt: „Wie gehen wir mit Staaten und Regierungen um, die nicht unseren westlich-demokratischen Grundwerten und moralischen Wertvorstellungen entsprechen, sondern auch eigene Werte und Traditionen pflegen?“ [7] Hier geht es um Handeln und hier führt eine strikte „Werteorientierung“ zu diversen Dilemmata, die nun aufzuzeigen sind:

Dilemma – ungesicherte Daten und Wahrheit

China wird vorgeworfen in Xinjiang Menschenrechte zu verletzen. Aufgedeckt hat die angeblichen Menschenrechtsverbrechen an den Uiguren der deutsche Xinjiang-Forscher Adrian Zenz. Zenz bekennender konservativer Evangelikaler war 2019 noch „selbstständiger Sozialforscher“, lebt inzwischen in den USA und wird dort von der Victims of Communism Memorial Foundation in Washington bezahlt, einer staatlich unterstützten Vereinigung, die ideologisch eine strikte antikommunistische Ausrichtung hat. Eine objektive und neutrale Beurteilung der chinesischen Verhältnisse ist von Zenz aufgrund seiner ideologischen Bindung kaum zu erwarten. Dennoch hört alle Welt auf diesen Mann. Kürzlich wurde ihm das als "Xinjiang Police Files" bekannte Datenleck zugespielt. Der Spiegel (Nr. 22/2022) u.w. Medien glauben daraus Menschenrechtsverletzungen ableiten zu können.
Aber sehr zum Ärger internationaler NGOs und auch zu „Forscher“ Zenz konnte die UN-Menschenrechtskommissarin Michelle Bachelet keine gravierenden Menschenrechtsverstöße in Xinjiang feststellen. Sie sprach von "Ausbildungszentren", die zur Terrorismusbekämpfung dienen. Und - die Maßnahmen sollten überprüft werden, damit sie internationalen Menschenrechtsstandards entsprechen.

Kann und soll vor diesem Hintergrund China sanktioniert werden? „Die Diversität der verschiedenen Systeme macht einfache Antworten unmöglich. (…) Sollte die deutsche Außenpolitik zu dem (verheerenden) Schluss kommen, nur noch mit Ländern aus dem westlich-demokratisch geprägten Abendland interagieren zu wollen, dann sind unsere Partner bald nur noch in der EU zu finden – und selbst da inzwischen mit Abstrichen. Deutschlands wichtigste Handelspartner, also solche, die Deutschlands Wohlstand wesentlich sichern, liegen teilweise außerhalb dieses Kreises. Dabei setzt wirtschaftliche Zusammenarbeit Demokratisierungsprozesse eher in Gang als Sanktionen durch politische Isolation. Wandel durch Handel – das war immer das Prinzip deutscher Außenpolitik.“ [7]

Gefährlich wird es, wenn werteorientierte Außenpolitik auf der Basis letztlich nicht gesicherten Behauptungen aktiv wird. Außenpolitik verfehlt ihr eigentliches Ziel, wenn eigene gesellschaftliche Vorstellungen, Gesinnungen oder Ideale anderswo durchgedrückt werden. „Bisher wurde noch kaum ein Krieg ohne großspurige Appelle an die Moral begonnen. Vielleicht wäre es besser, wenn deutsche Außenpolitikerinnen und -politiker anfangen würden, ihre Interessen genauso klar zu benennen, wie ihre Werte.“ [6]

Dilemma – Eingriffe / Sanktionen verschlechtern die Situation

Venezuela: Seit 2019 setzen die USA strengste internationale Sanktionen gegen Venezuela durch. Unter Ex-Präsident Donald Trump war ein regime change das erklärte Ziel. Der autoritäre Staatschef Nicolás Maduro sollte abdanken.

Die humanitäre Lage in Venezuela hat sich seit den amerikanischen Sanktionen, die Deutschland u. Europa mittragen, extrem verschlechtert, wie die UN-Beauftragte, Alena Douhan, 2021 berichtete. Das hatte zur Folge, dass z.B. 2,6 Millionen Kinder keine Regel-Impfungen bekommen konnten. Rechtfertigt hier der Zweck noch die Mittel? Es gibt eine unabhängige Studie, die von bis zu 40.000 Toten im Zuge der Sanktionen ausgeht. (Oliver Müller, Caritas Deutschland, Dlf 26.09.2019)

Für Alfred de Zayas, den ehemaligen unabhängigen Berichterstatter der Vereinten Nationen, stellen die amerikanischen Sanktionen „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ dar, da sie die Ernährungssicherheit und das Gesundheitssystem des Landes erheblich beeinträchtigen. Der Ökonom Jeffrey Sachs erklärt: „Die venezolanische Regierung wird regelmäßig für die gesamte Wirtschaftskrise des Landes verantwortlich gemacht. Aber es ist viel mehr als das. Die US-Sanktionen zielen bewusst darauf ab, die venezolanische Wirtschaft zu zerstören und damit zu einem Regimewechsel zu führen. Es ist eine erfolglose, rücksichtslose, illegale und gescheiterte Politik, die dem venezolanischen Volk ernsthaften Schaden zufügt.“ [8]

Dilemma – Doppelmoral ein „Verbrecher“ klagt den anderen an

Kriegsverbrechen - in welchem Krieg gab es die nicht? Krieg ist seinem Wesen nach ein Verbrechen und die Diskussionen hierzu sind hier meist unlauter. Ein aktuelles Beispiel: Russland kann bezüglich der ihm vorgeworfenen Kriegsverbrechen in der Ukraine immer auf das

Vorbild USA/Nato verweisen: Nagasaki, Vietnam, Irak, Afghanistan... Viele tausend zivile Opfer. Nicht zu vergessen Kuba. Um Fidel Castro zu beseitigen gab es viele Pläne, LSD, Vergiftung u.v.m. Ein Vorbild für die unbewiesene Vergiftung des Agenten Skripal durch Russland?

Und noch ein Beispiel: Jüngste Äußerungen des US-Außenministers Antony Blinken, China habe Frau Bachelet bei der Besichtigung manipuliert, wurden vom Sprecher des chinesischen Außenministeriums Zhao Lijian als Lüge zurückgewiesen. Und Zhao verwies auf folgendes: Seit 2001 hätten die Vereinigten Staaten im Namen der Terrorismusbekämpfung Kriege oder Militäroperationen in etwa 80 Ländern geführt, bei denen mehr als 800.000 Menschen getötet worden seien, darunter etwa 300.000 Zivilisten. Die Vereinigten Staaten hätten auf der ganzen Welt illegale Gefängnisse wie das Gefängnis von Guantanamo Bay eingerichtet, wo Menschen willkürlich und ohne Gerichtsverfahren für lange Zeit festgehalten, gefoltert und misshandelt würden. Der Rassismus in den Vereinigten Staaten sei tief verwurzelt, und ethnische Minderheiten wie Afroamerikaner und asiatische Amerikaner müssten mit systemischem Rassismus leben.

Hier werden Legitimationsprobleme sichtbar. Mit welcher Glaubwürdigkeit kann ein moralisch-ethisch defizitärer Westen anderen Staaten Verfehlungen vorwerfen. Ein „Verbrecher“ klagt den anderen an. Werteorientierte Politik kann so nicht funktionieren. „Westliche Demokratien haben deshalb auch die Aufgabe, eigene Defizite abzustellen, die ihre Input- und Output-Legitimität unterminieren.“ [3]

Dilemma – verschiedene Wertesysteme - westliche Werte teilen nur eine Minderheit

Demokratie global zu Ende gedacht heißt „One man, one vote“ und da ist der gesamte Westen bevölkerungsmäßig mit 15% Anteil eine Minderheit! Das sollte man immer bedenken, wenn es um unsere „universellen“ Werte geht. Also willkommen in der Realität. Ca. 85 % der Weltbevölkerung teilen nicht die westlichen Werte. Damit müssen wir leben und zwar so, dass wir unsere Werte etc. weiter vertreten und beweisen, dass sie dem Leben der Menschen mehr nützen als die Werte anderer Gesellschaften. Unterlassen sollte man, weil wenig friedensstiftend, das ständige Anklagen und Sanktionieren von Ländern mit anderen Systemen. Vielleicht sollte folgende Maxime von Altkanzler Helmut Schmidt mehr beherzigt werden: "...aber um die Demokratie in einem Entwicklungsland einzuführen, würde ich keinen Cent geben. Die gegenwärtige Ideologie ist es, sich überall einzumischen. Ich habe nicht das Recht, Politikern oder Menschen in anderen Ländern öffentlich Ratschläge zu geben, wie sie die Menschenrechte verwirklichen." [9] Das von Schmidt verfochtene Prinzip der Nichteinmischung in Innere Angelegenheiten eines Staates ist zwar umstritten. Aber Caroline Fleuriot stellte dazu fest: „Kein Staat besitzt also ein unilaterales Recht, sich aus humanitären Gründen in die inneren Angelegenheiten eines anderen Staats einzumischen, nicht einmal zum Schutz seiner eigenen Staatsbürger.“ [10]

Samuel P. Huntington hat schon frühzeitig auf die Werteproblematik hingewiesen. Nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes sei die Weltpolitik multipolar und multikulturell geworden; nicht mehr Ideologien, sondern Kulturen bestimmten die Weltordnung. Der Westen müsse, um neue weltweite Konflikte zu vermeiden, auch andere kulturelle Wertvorstellungen berücksichtigen. [11] Auch wenn Huntington wegen seiner globalen Hypothesen stark kritisiert wurde, so sind seine Aussagen zur Werteproblematik nicht einfach vom Tisch zu wischen.

Und haben Politiker der ganzen Welt und die Zivilgesellschaft nicht versagt? Atomare und allgemeine Abrüstung hat man seit Jahren zu den Akten gelegt, eine Politik internationalen Ausgleichs hat man zu den Akten gelegt u.v.m. Im Gegenteil seit Jahren dominiert in der internationalen Politik ein globales „Schlechtreden“ derjenigen Länder, die andere politische Systeme haben. Unlängst bei der Olympiade jeden Tag der Hinweis v. Menschenrechtsverletzungen Chinas, Überwachungsstaat etc. Das ist nicht schön, aber wir sollten langsam begreifen, dass es diese Staaten in dieser Verfasstheit nun mal gibt und dass eine humane Zukunft der Menschheit nur möglich ist, wenn wir intelligente Wege zur Veränderung beschreiten, auf Kooperation setzen und nicht mit dem Kopf durch die Wand wollen.

Dilemma – Durchsetzung u. Doppelmoral

Ein Grundproblem „werteorientierter Politik“ ist ihre Durchsetzbarkeit. Entsprechend ineffektiv und armselig sind in jüngster Zeit die „Friedenslösungen“ im Ukrainekrieg, die sich aus dieser Logik ergeben: Sanktionen, Embargos, Waffenlieferungen, und milliardenschwere militärische Aufrüstungen, die allesamt nutzlose Maßnahmen sind, die weder den Krieg stoppen – noch zum Frieden führen. Im Gegenteil diese Maßnahmen haben Folgen. In Deutschland, in Europa und in der Welt kann es zu nicht beherrschbaren Instabilitäten kommen, mit enormen Risiken für unseren Wohlstand und die Demokratie, die ja eigentlich verteidigt werden soll. Für die neue Klimapolitik werden Rohstoffe und finanzielle Mittel fehlen. Auch Fracking Gas, das in Form von LNG u.a. von den USA per Schiff nach Deutschland gebracht werden soll, ist klima- und umweltschädlich. Der Prozess der Verflüssigung, die Kühlung (-164 Grad) beim Transport, der Transport selbst (Schweröl Tanker) und die Regasifizierung am Import-Terminal sind sehr energieaufwändig und damit umweltschädlich.

Gestern gab es noch Boykottaufrufe und nun herzliche Umarmungen im autoritär regierten Katar, wo Wirtschaftsminister Habeck als Öl-Bittsteller unterwegs war. Ein Bruch der „Moral“ erzwungen durch reale Energienot. Endet so die neue "werteorientierte Außenpolitik" schon wenige Monate nach dem Regierungwechsel.

Das sind nur einige Konsequenzen einer vorwiegend „werteorientierten“ und moralisierenden Außenpolitik, die den Sinn für die politischen Realitäten verloren hat. Das alte pädagogische Prinzip „Vergehen“ zu bestrafen und so Verhalten zu ändern, hat schon im Klassenzimmer nicht funktioniert. Wie sollte es dann in der internationalen Politik nützlich und wirksam sein.

Auf die westliche Doppelmoral hat u.a. Carlo Masala schon vor Jahren hingewiesen: „Wir behandeln Saudi-Arabien richtigerweise als einen strategischen Partner, klagen aber Menschenrechtsverletzungen in anderen Staaten massiv an und isolieren diese. Das machen wir mit den Saudis nicht, weil: Die Saudis sind uns zu wichtig.“ Massala schlägt vor - künftig weniger auf Moral und Demokratie zu setzen als vielmehr auf Ehrlichkeit, Stabilität und Frieden, also auf klassische Interessenpolitik. [12]

 


Resümee

Die westliche Welt will die ganze Welt moralischer machen. Ein missionarischer Anspruch, der in seiner Totalität nur scheitern kann und schon gescheitert ist, wie Beispiele der jüngsten Zeit belegen. So tobt der Ukraine-Krieg ungehindert weiter, weil den durchzusetzenden „Werten“ das richtige Handlungskonzept fehlt und weil die gepredigte, wertebasierte und regelgestützte Weltordnung von einer Reihe relevanter Akteure schlichtweg nicht akzeptiert wird. Selbst innerhalb eines gemeinsamen Wertesystems ist die Auslegung von Werten oft umstritten, der richtige Weg sie zu erreichen ungewiss und Konflikte zwischen ihnen unvermeidbar. Ist das Interesse an Frieden „nur“ ein Interesse oder ein Wert – oder beides? [13]

Es zeigt sich, dass aus einer Orientierung an Werten, nicht automatisch richtiges Handeln bzw. sich der Weg mit dem die Werte erreicht werden können, ableiten lässt. „Werte können nicht die einzige Richtschnur sein. Interessen zählen ebenso.“ Helmut Schmidt legte dar, dass Werte allein keinen eindeutigen Handlungskompass bilden, sondern dass „die vernunftgemäße Abwägung zu sehr verschiedenen Zielen und Wegen führen“ kann. [14]
Solche Güterabwägung ist ein grundlegendes ethisches Prinzip, bei dem die meisten Fehler gemacht werden. Immer geht es beim Handeln um eine Abwägung erwünschter oder unerwünschter Folgen: Soll man Rechtsbrüche akzeptieren oder Risiken bei der Wiederherstellung des Rechts eingehen, eskalierende Waffenlieferungen oder Appeasement gegenüber Putin, es geht immer um erwünschte oder unerwünschte Folgen.

Im Sinne einer „Verantwortungsethik“ (Max Weber) wären bei Handlungen alle voraussichtlichen Folgen in Betracht zu ziehen, es ist zu fragen, welche Folgen insgesamt unter dem Aspekt des Wertgehaltes die besten sind und entsprechend ist zu handeln, und zwar auch dann, wenn dabei etwas zu tun ist, was, wenn man es isoliert betrachtet, schlecht genannt werden müsste. Dieser im Ganzen moralisch nicht ganz saubere Weg, kann von einer strikten wertorientierten Außenpolitik nicht mitgegangen werden.

„Nichts ist mehr so, wie es war“ konnte der Rede des Bundeskanzlers entnommen werden und wie es zukünftig kommen wird, hängt von vernünftiger Güterabwägung und dem finden zielführenden Wege ab. Eine Maxime kann dabei sein: Alles zu unterlassen, was ein „gutes“ Leben verhindert oder positiv - Alles zu tun was ein „gutes“ Leben fördert.

 Redaktion: Günter Lorenz

Quellen:
[1] Heinz Gärtner: Die USA und die neue Welt. LIT, Berlin/Münster 2014, ISBN 978-3-643-50640-5, S. 17 ff.
[2] Heinz Gärtner: Die USA und die neue Welt. LIT, Berlin/Münster 2014, ISBN 978-3-643-50640-5, S. 19.
[3] Stefan Mair: Partner oder Rivalen? Vom Umgang mit autoritären Mächten SWP Berlin Deutsche Außenpolitik im Wandel September 2021, S.123-126
[4] Sabine Pamperrien: Die China-Versteher und ihre demokratischen Feinde, Dlf 10.03.2013
[5] Koalitionsvertrag 2021 ebd. 143.
[6] Daniel Marwecki: Die neue Außenpolitik ist selbstgerecht, Jacobin Magazin, 17.12.2021.
[7] Dr. Michael Inacker: Deutsche Außenpolitik. Moral- oder Realpolitik?, Diplomatisches Magazin, 1.11.2019
[8] https://de.frwiki.wiki/wiki/Crise_%C3%A9conomique_v%C3%A9n%C3%A9zu%C3%A9lienne
[9] Helmut Schmidt, zitiert aus Frank Sieren, Zukunft? China!*, München 2020, S. 358
[10] Caroline Fleuriot, Le Monde diplomatique vom 12.09.2008
[11] Samuel P. Huntington: Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert. 5. Auflage. Siedler bei Goldmann, München 1998, S. 68-135)
[12] Carlo Masala: Die globalen Krisen und das Versagen des Westens, 2016, zitiert nach Dlf 19.12.2016, von Conrad Lay.
[13] Vilhelm Aubert (1963, 1973) unterscheidet zwei Konfliktquellen: Interessenkonflikte beruhen auf der Knappheit von Gütern oder Positionen. Ein Wert-
       oder Überzeugungskonflikt beruht dem gegenüber „auf einem Dissens in Bezug auf den normativen Status eines sozialen Objekts“,
       auf Meinungsverschiedenheiten über Werte oder Tatsachen sowie über die Hierarchisierung oder die richtige Anwendung von Werten.
[14] Eckhard Lübkemeier: Auf Deutschland kommt es an. In: SWP-Studie 15, Berlin 2021, S. 20


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